Cover
Titel
Problemorientierung im Geschichtsunterricht.


Autor(en)
Hensel-Grobe, Meike
Reihe
Methoden historischen Lernens
Erschienen
Frankfurt am Main 2020: Wochenschau-Verlag
Anzahl Seiten
208 S.
Preis
€ 14,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Meik Zülsdorf-Kersting, Geschichtsdidaktik, Universität Hannover

Meike Hensel-Grobe hat nach zwei Beiträgen in Aufsatzform im Jahr 2020 eine kleine Monographie zum Thema Problemorientierung im Geschichtsunterricht vorgelegt.1 Das Buch ist in der Reihe Methoden historischen Lernens im Wochenschau Verlag erschienen; es versteht sich in Anlehnung an die programmatische Ausrichtung der Reihe als „moderner Leitfaden für den Geschichtsunterricht“. Das Buch möchte aus verschiedenen Ansätzen der Problemorientierung ein „didaktisches Basiskonzept für einen guten, vielfältigen und abwechslungsreichen Geschichtsunterricht“ (Klappentext) entwickeln. Ausweislich der Einleitung wendet sich der Band an „junge Lehrerinnen und Lehrer, Referendare und Referendarinnen, an Lehramtsanwärter [sicher auch an Lehramtsanwärterinnen; MZK] und auch an fachfremd unterrichtende Lehrkräfte“ (S. 8). Der Band möchte somit einerseits einführenden und unterrichtspragmatischen Charakter haben; so kündigt er explizit an, die der Problemorientierung „zugrundeliegenden, meist in ihren eigenen Forschungsbezügen elaboriert ausgearbeiteten Theoriefelder“ (S. 8) nicht angemessen darstellen zu können. Andererseits soll Problemorientierung „als eine Basiskategorie von Geschichtsunterricht“ (S. 7) profiliert werden, um „verschiedene Strukturierungsansätze, historische Erkenntnisverfahren und Lehr-Lern-Konzepte unter einem gemeinsamen Dach zu vereinigen und dabei die Schülerinnen und Schüler mit ihrem Lernen in den Mittelpunkt zu stellen“ (S. 7).

Dieser Anspruch ist allerdings enorm und er bedürfte eigentlich der theoretischen Absicherung. Ich deute zwei Aspekte an, die ungemein relevant sind und intensiver bedacht werden müssten: 1.) Was ist unter „Basiskategorie von Geschichtsunterricht“ zu verstehen? Der Pleonasmus „Basiskategorie“ lässt vermuten, dass Allgemeinstes gemeint ist, das den Geschichtsunterricht als Unterricht im Allgemeinen und als fachspezifischen Unterricht ausmacht. Welche weiteren Basiskategorien identifiziert Hensel-Grobe neben der Problemorientierung? Denkt sie kategorial in ähnlicher Weise an „Handlungsorientierung“, wie es Demantowsky in Günther-Arndts Geschichtsmethodik unter dem Rubrum „unterrichtsmethodischer Strukturierungskonzepte“2 getan hat? 2.) Die Formulierung „unter einem gemeinsamen Dach zu vereinigen“ erschwert die kategoriale Verortung des vorliegenden Anliegens zwischen (Geschichts-)Unterrichtstheorie, Lerntheorie, Unterrichtsmethodik/Geschichtsmethodik und Geschichtstheorie. Auch wenn die vier Begriffe eng aufeinander bezogen sind, verweisen sie auf unterschiedliche Bereiche, die jeweils kategorial zu durchdringen wären. Man darf von Publikationen nichts erwarten, was diese erklärtermaßen gar nicht leisten wollen. Der vorliegende Band möchte keine theoretische Basisarbeit zum Begriff der Problemorientierung leisten, sondern ein empirisch informierter Leitfaden für die Planung problemorientierten Geschichtsunterrichts sein. Das gelingt ihm auf überzeugende Weise.

Der Band ist in vier Kapitel gegliedert, wobei das dritte Kapitel „Die Probleme“ nicht nur quantitativ das gewichtigste Kapitel darstellt. Hier modifiziert Hensel-Grobe ihre 2012 erstmals vorgestellte Problemtypologie.3 Vorgeschaltet sind zwei Kapitel zu „Grundlagen und Überblick“ (Kap. 1) und „Das Erkenntnis- und Strukturierungsverfahren“ (Kap. 2). Der Band schließt mit dem Kapitel „Methodische Aspekte der Unterrichtsplanung und -gestaltung“ (Kap. 4). Die vier Kapitel sollen in gegebener Kürze zusammengefasst werden, um einen Eindruck des inhaltlichen Spektrums des Bandes zu ermöglichen.

Kapitel 1 wendet sich in vier jeweils kurzen Teilkapiteln der Geschichte der Problemorientierung (Uwe Uffelmann, Heinz Dieter Schmid und Wolfgang Hug), allgemeinen Aspekten des Lehrens und Lernens (konstruktivistischer Lernbegriff und conceptual change), Zielen und Modellen von Geschichtsunterricht und dann spezifischer dem problemorientierten Geschichtsunterricht zu. Das in die 1970er-Jahre zurückreichende Konzept der Problemorientierung wird vor dem Hintergrund der spätestens mit PISA (2000) einsetzenden Kompetenzorientierung als fortdauernd relevant beschrieben. Wenn Kompetenzen als „Problemlösefähigkeiten“ (S. 12) angesehen werden können, gewänne auch die Problemorientierung neue Legitimation für die Unterrichtsplanung. Schließlich stellt Hensel-Grobe am Ende des ersten Kapitels die folgenden definitorischen Merkmale eines problemorientierten Geschichtsunterrichts zusammen: a) Lehr-Lern-Konzept zur Konstruktion von Lernprozessen, die an die Prä-Konzepte der Schüler:innen anknüpfen; b) Gegenwartsbezug als konstitutives Merkmal; c) didaktisches Prinzip für die Stoffauswahl; d) Integration fachspezifischer Erkenntnisverfahren (Prozessmodelle historischen Denkens); e) Strukturierungsverfahren für den Geschichtsunterricht; f) Modell zur Förderung historischer Kompetenzen; g) Produktorientierung, die Sprache und Fachkommunikation involviere; h) Dialog zwischen Fachdisziplin Geschichte und Lebenspraxis.

Das zweite Kapitel „Das Erkenntnis- und Strukturierungsverfahren“ stellt Verlaufsschemata für problemorientierte Einzelstunden (S. 25–42) wie auch für ganze Unterrichtsreihen (S. 42–47) vor. Als Phasen einer problemorientierten Einzelstunde weist Hensel-Grobe folgende Phasen aus: a) Einstieg und Problemstellung, b) Hypothesenbildung und Planung des Lösungsweges, c) Erarbeitung, d) Auswertung, e) Vertiefung und Diskussion. Konstitutiv sei der Ausgang von Gegenwartserfahrungen und ggf. sogar Orientierungsbedürfnissen der Schüler:innen, auf deren Basis Hypothesen gebildet und mögliche Erarbeitungen geplant werden sollen. Die sich anschließende Phase der „Problemlösung“ (Demantowsky verwendete den stärker konstruktivistischen Terminus „Problembearbeitung“4) umfasse in Anlehnung an Rüsen (explizit) und Jeismann (implizit) „Sachanalysen“, „Sachurteile“ in den Modi „Rekonstruktion“ und „Dekonstruktion“ (S. 26). Am Ende haben in einer eigenen Phase die „Reflexion in Bezug auf die Bedeutung für die eigene historische Bedeutung“ (S. 26) sowie die Reflexion des Lösungsweges“ (S. 26) zu erfolgen. Die Gestaltung der einzelnen Phasen weist Hensel-Grobe als „Grundhandwerkszeug“ (S. 25) eines Geschichtslehrers bzw. einer Geschichtslehrerin aus. Sowohl Einzelstunden wie auch Unterrichtsreihen seien durch diese Phasen und die mit ihnen verbundenen Erkenntnisverfahren gekennzeichnet. Unterrichtsreihen würden Einzelstunden unter ein „übergreifendes Problemziel“ (S. 43) stellen und größere Eigenständigkeit der Schüler:innen ermöglichen, wohingegen Einzelstunden die Phasen an einem eng eingegrenzten Thema unter Anleitung seitens der Lehrkraft durchlaufen müssten.

Das dritte Kapitel wendet sich dann den Problemen im Zentrum eines problemorientierten Geschichtsunterrichts zu. Hensel-Grobe unterscheidet fünf Problemtypen, die sie vier Problemkategorien zuordnet: a) in der Kategorie „Lebenspraxis/Gegenwartserfahrung“ „Grundprobleme der Gesellschaften“ und „Probleme der Geschichtskultur“; b) in der Kategorie „Problemkontexte“ (S. 52) thematisch-inhaltliche „Probleme der historischen Kontextualisierung und des historischen Urteilens“; c) in der Kategorie „Problemvertiefungen“ finden sich methodisch-prozedurale Problemtypen; d) „Forschungsprobleme“ stellen eine eigene Kategorie dar. Das achtzigseitige Kapitel 3 stellt jeden Problemtyp durch zahlreiche Beispiele vor und sucht immer wieder auch den Anschluss an theoretische Bezugsgrößen der Forschung. Beispielhaft sei das am Problemtyp „Grundprobleme der Gesellschaften“ demonstriert. In Anlehnung eben an Klafkis „epochaltypische Schlüsselprobleme“, Bergmanns „Gegenwartsbezug als Ursachenzusammenhang“ und Rüsens jüngst vorgelegte materiale Geschichtsphilosophie und die dort gesetzten „Spannungen und Gegensätzlichkeiten“5 als Bedingungen menschlicher Existenz nennt Hensel-Grobe Probleme wie „Die Industrialisierung im 18./19. Jahrhundert. Fortschritt oder Zerstörung?“ oder „Kalter Krieg oder Ost-West-Konflikt?“ In derartigen Problemen macht Hensel-Grobe den „übergeordneten Horizont“ aller anderen Problemtypen und damit eine „unverzichtbare Grundlage“ (S. 54) des Unterrichts aus.

Das vierte Kapitel liest sich wie ein Appendix, der unterschiedliche methodische Aspekte (Schülerfragen als Grundlage, Arbeitsaufträge/Aufgabenstellungen oder fachspezifische Lesekompetenz) noch einmal aufgreift. Nichtsdestotrotz ist das Kapitel hilfreich, weil dort schulische Erfahrungen eingebracht werden – wie z.B. diese: Jede:r Geschichtslehrer:in werde die Beobachtung gemacht haben, dass Schüler:innen vorzugsweise „kleine W-Fragen“ (S. 132) stellen, aber keine übergreifenden Problemfragen. Dies hänge mit der epistemologischen Überzeugung zusammen, dass es einen Wissenskanon gebe, der zu erlernen sei: „Die Entwicklung einer Fragekompetenz ist also an die Veränderung der epistemologischen Überzeugungen gebunden.“ (S. 132)

Es ist in meinen Augen ein Vorzug des Buches, dass Hensel-Grobe ihre Ausführungen zur Problemorientierung immer wieder an epistemologische und prozedurale Grundüberzeugungen des Faches Geschichte zurückbindet. So verschränkt sie die Phasen eines problemorientierten Geschichtsunterrichts mit geschichtstheoretischen Basisoperationen des Faches Geschichte (Operationen historischen Denkens). Ebenso hilfreich wie wichtig sind die mehrfach gesetzten Hinweise, dass Problemorientierung mit einer bestimmten epistemologischen Haltung einhergehen. Problemorientierung in diesem Sinne heißt nicht, Stunden in wiederkehrender Monotonie an aufgesetzten Problemfragen abzuarbeiten, sondern eine bestimmte Haltung zum Fach und zum Gegenstand zu kultivieren. Instruktiv und wichtig ist auch die Fortentwicklung der Problemtypologie von 2012. Der Problembegriff war derart weit, dass man mit Recht fragen konnte, ob es überhaupt nicht-problemorientierten Geschichtsunterricht geben könnte. Zwar decken die Problemtypen und Problemkategorien immer noch ein sehr breites Spektrum ab; nun sind aber alle Problemtypen der Kategorie „Lebenspraxis/Gegenwartserfahrung“ untergeordnet. In Anlehnung an Uffelmann motiviert der problemorientierte Geschichtsunterricht die Schüler:innen somit wieder zu hochgradig reflexiven Prozessen, die zur Erkenntnis der Ergebnisse „für sie selber als je eigene Person wie als Individuen in ihren gesellschaftlichen Bezügen“6 führen können.

Das Buch liefert keine theoretisch fundierte Darstellung geschichtsdidaktischer Problemorientierung; insofern wird es seiner Ankündigung gerecht. Gleichwohl ist es erfreulich klar positioniert in so grundsätzlichen Punkten wie denen, dass Geschichtsunterricht immer auf die Schulung historischen Denkens abzielen oder dass er in seiner Substanz immer an gegenwärtige Klärungsbedarfe anschlussfähig sein müsse. Problemorientierung wird so nicht zu einem optionalen Werkzeug der Lehrkraft, sondern zu einem basalen Prinzip des Geschichtsunterrichts. Daher sind ihm viele Leser:innen vor allem unter den Geschichtslehrer:innen, den Referendar:innen und den Student:innen des Faches zu wünschen.

Anmerkungen:
1 Meike Hensel-Grobe, Problemorientierung, in: Praxis Geschichte (2018) 6, S. 29–32; dies., Problemorientierung und problemlösendes Denken, in: Michele Barricelli / Martin Lücke (Hrsg.), Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts. Bd. 2, 2. Aufl. Schwalbach/Ts. 2017, S. 50–63.
2 Marko Demantowsky, Unterrichtsmethodische Strukturierungskonzepte, in: Hilke Günther-Arndt / Saskia Handro (Hrsg.), Geschichtsmethodik. Handbuch für die Sekundarstufe I und II, 6. Aufl. Berlin 2018, S. 61–74.
3 Meike Hensel-Grobe, Problemorientierung und problemlösendes Denken, in: Michele Barricelli / Martin Lücke (Hrsg.), Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts. Bd. 2, 2. Aufl. Schwalbach/Ts. 2017, S. 53–56.
4 Marko Demantowsky, Unterrichtsmethodische Strukturierungskonzepte, in: Hilke Günther-Arndt / Saskia Handro (Hrsg.), Geschichtsmethodik. Handbuch für die Sekundarstufe I und II, 6. Aufl. Berlin 2018, S. 67.
5 Jörn Rüsen, Geschichte denken. Erläuterungen zur Historik, Wiesbaden 2020, S. 105 und S. 117–120.
6 Uwe Uffelmann, Problemorientierung, in: Ulrich Mayer / Hans-Jürgen Pandel / Gerhard Schneider (Hrsg.), Handbuch Methoden im Geschichtsunterricht, Schwalbach/Ts. 2004, S. 89.

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